Seiltanzen am Staudamm
13.02.2017
Von dem kühnen Projekt im Harz hatte ich schon vor einiger Zeit gehört, doch irgendwie war es wohl nicht bis zu meiner
Matrix vorgedrungen. Diese Welt ist dermaßen vollgestopft mit lauten und grellen Superlativen, dass man die leisen, quasi
die vor der Haustür, gar nicht richtig wahrnehmen kann. Da sind dem Arbeitsspeicher Grenzen gesetzt, die ihn zum
Aussortieren zwingen und ein Zufall muss her, um das Hirn wieder in die richtige Spur zu bringen. Plötzlich sind auch
Interesse und Neugier wieder entfacht.
Wer, spätestens ab kommenden Frühling, den Harz besucht, darf sich auf eine neue Attraktion freuen. Parallel zum
Staudamm am Rappbodetal wird sich dann eine mindestens 340 m lange Stahlseilbrücke über den mehr als 80 m tiefen
Abgrund spannen. Die ganz Mutigen dürfen nicht nur staunen, sondern auch über die, dann weltgrößte Hängebrücke,
hinweg gehen und sich dabei ihre Körper mit Adrenalin anreichern lassen. Ein Nerven- und Körperkitzel der ganz
besonderen und ausgefallenen Art. Ich hatte Lust, meine Neugier schon jetzt zu befriedigen und habe mir den Stand der
Arbeiten mal aus nächster Nähe angesehen und nebenbei den ausklingenden Winter besucht.
An diesem Montagmittag ist es ruhig hier oben. Nur einige wenige Neugierige hatten wohl die gleiche Idee und sind auf der
Staumauer unterwegs. Der Sonnenball steht zur Mittagsstunde schon ziemlich hoch am Himmel und wirft ein grelles Licht
über die Weite der schneebedeckten Eisfläche. Die streckt sich wie ein blütenweißer Teppich bis zu den Berghängen weit
hinten. Es sieht aus, als hätte jemand fein säuberlich und gleichmäßig eine dünne Schicht Puderzucker verstreut. Nur die
Spuren von einigen Tieren durchqueren das Weiß und ein dünner langer Riss malt eine Zackenlinie auf den See hinaus. Die
Stille ist faszinierend und nur manchmal wird sie von eigenartig dumpf glucksenden Geräuschen, die unterhalb der Eisdecke
entstehen, unterbrochen. Ich flaniere im Sonnenlicht auf dem Damm und berausche mich an der Faszination der
Umgebung und dieses eigenartig wunderschönen Augenblicks. Nichts gegen Fotoapparate, aber wohl nur ein Maler mit
seinem Pinsel könnte das Atmen der Natur in diesem Moment einfangen.
Auf der anderen Seite bricht die Betonwand des Dammes steil nach unten weg und der Blick schweift reichlich einhundert
Meter, an der höchsten Staumauer Deutschlands, in die Tiefe. Im Bauch spüre ich ein Kribbeln und auch auf dieser Seite
übt die Weite der Natur einen faszinierenden Reiz auf das Auge des Betrachters aus. Seit dem vergangenen Jahr kann man
hier, an einem Stahlseil hängend, binnen weniger Sekunden, parallel zur Mauer über das Tal hinweg, einem Vogel gleich auf
die andere Talseite rasen. Nichts für jedermann, wie ich mir stillschweigend eingestehe. Doch es geht noch verrückter, ja
noch adrenalinsüchtiger!
Schon in diesem Jahr soll sich, ebenfalls parallel zur Staumauer und in atemberaubender Höhe, eine Hängebrücke aus
Stahlseilen über den Abgrund spannen. Wem der Flug am Seil hängend über das Tal zu schnell vorüber geht, der darf sich
dann, in luftiger Höhe schwankend, per Pedes über die Talsohle bewegen. Dann soll hier der Welt längste Hängebrücke ihre
magnetisch anziehende Wirkung auf die Touristen und Einheimischen entfalten. Wahrscheinlich kann man dann, einhundert
Meter hoch über dem Tal an seinen eigenen Füßen vorbei in die Fluten, oder wahlweise auf die Baumwipfel, blicken. Ich
höre schon das Kreischen der Weiber und das Johlen der Männer weit über das, jetzt noch ruhig vor sich dahinträumende,
Tal schallen. Schaurig schöne moderne Welt des Scheins inmitten behaglich träger Natur, die dann vom Kommerz, und der
entfesselten Gier danach, besiegt sein wird. „Schneller, höher, weiter“ ist mir noch in einem anderen und sinnvolleren
Zusammenhang geläufig. Doch wer will sich heute schon (selbst) bewegen? Dann lieber für einen kurzen passiven Kick
blechen.
Wie das aufgehen soll, ist mir, in Anbetracht des kleinen Parkplatzes hinter dem 219 m langen Tunnel, noch ein Rätsel. Der
ist nicht größer geworden, nur eine neue Versorgungseinrichtung steht jetzt dort. Neu ist auch die Schranke zum
Abkassieren der Parkenden und ein Zahlautomat kassiert am Aufgang zum „Point Of No Return“ noch einmal. Abkassieren
sollte also gut funktionieren und die Bespeisung sicherlich auch, wenn man denn einen Stellplatz für seine Blechkarosse
ergattert hat. Falls überhaupt, werde ich sicher wieder einen Montag außerhalb der Ferien wählen, um den „Seiltanz am
Staudamm“ einmal aus der Nähe zu betrachten und wer weiß, vielleicht reicht der Mut noch für etwas mehr. Sollte
allerdings jemand den schlichten Wunsch hegen, einfach nur einmal diesen gigantischen Staudamm bestaunen zu wollen,
muss er wohl oder übel sein Gefährt irgendwo vorher am Straßenrand abstellen und dann zum Bauwerk laufen. No
comment!
Der Rückweg führt über die Landstraße nach Rübeland, vorbei an im Sonnenlicht glänzenden Bäumen. Nach einmal ein
kurzer Halt, einige Schritte auf eine Lichtung, um die vielen Eiskristalle an Sträuchern und Ästen zu bestaunen. Es scheint,
als wäre der Winter inzwischen müde geworden und die Natur wolle langsam erwachen. Weit oben malt ein Silbervogel
einen Kondensstreifen in den blauen Himmel, während von den Wipfeln der Bäume das tauende Eis und der nasse Schnee
abtropfen. Im Augenblick gefällt mir der Abschied des Winters besser, als das hinterlistig lauernde Erwachen neuer
Attraktionen. Bin ich jetzt schon alt oder nur ein wenig weise?
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.